Einziger
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Das moralisch und körperlich schwierigste war die Berichterstattung über die Sprengung des Wasserkraftwerks in Kachowka. Unser Team arbeitete bis zur Hüfte im Wasser und wurde dabei von russischer Artillerie beschossen. Ich sah die Leichen von Haustieren im Wasser treiben, zerstörte Häuser, verzweifelte Menschen und eine der schlimmsten Umweltkatastrophen seit Tschernobyl. Aber jedes Mal brechen mir die Geschichten von Kindern, die Gliedmaßen verloren oder durch Minen verletzt wurden, das Herz. Ich werde mich immer an einen Jungen erinnern, der in seinem Heimatdorf im Osten des Landes versehentlich auf eine Minensprengfalle trat und einen Fuß verlor. Aus irgendeinem Grund gab er sich selbst die Schuld für das Geschehene und konnte beim Erzählen nicht einmal den Blick heben.

Aber ich habe immer einen Grund, weiterzumachen: Ich möchte einen Beitrag zu diesem Kampf leisten. Ich möchte zwar nicht auf das Leid der Ukrainer:innen schauen und darüber schreiben, aber ich kann auch nicht so tun, als gäbe es das nicht.
Ein ukrainischer Soldat sieht seine Familie, die gerade aus dem von Russland besetzten Gebiet kommt. Foto: Andriy Dubchak
Aber ich halte unsere Fähigkeit zur Empathie und zur Hilfe für unsere Mitmenschen für die einzige Möglichkeit, heute zu überleben.
Der klassische sterile Journalismus würde das wohl als mangelnde Objektivität bezeichnen.
Während man in Pokrowsk ist, wird die eigene Familie in Kyjiw bombardiert. Und wenn man in Kyjiw ist und die Bombardierung beginnt, ist man hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, die Familie in Sicherheit zu bringen, und dem Wunsch, zu den Kameras zu laufen, um zu filmen. Die Arbeit hört für uns fast nie auf. Journalist:innen arbeiten sehr viel und gleichzeitig nicht genug.

Kürzlich wurde ich auf einer Journalist:innenkonferenz gefragt, was ukrainische Journalist:innen tun sollten, damit westliche Medien ihnen mehr Vertrauen schenken und sie nicht als voreingenommen und traumatisiert betrachten. Ich antwortete ehrlich: Ich weiß es nicht. Heute wird es immer schwieriger, unparteiisch zu bleiben. Und ich sehe, dass es meinen Kolleg:innen genauso geht. Ukrainische Journalist:innen versuchen, den Held:innen ihrer Reportagen zu helfen, suchen für sie Unterkünfte, Anwält:innen und Psycholog:innen. Und diejenigen, die die Evakuierungen filmen, evakuieren selbst Menschen und Tiere.
Aber Russland tötet ukrainische Journalist:innen nicht, weil sie an den falschen Orten leben oder arbeiten, sondern weil sie Ukrainer:innen sind.

Die zweite Herausforderung ist die fehlende Trennung zwischen Arbeit und Privatleben. Krieg wurde heute zu etwas Persönlichem.
Entlang der Frontlinie jagen russische Drohnen Fahrzeuge mit der Aufschrift “PRESSE”.
Russland macht keinen Hehl mehr daraus, dass ukrainische Journalist:innen verfolgt werden und dass man sich an ihnen für ihre Arbeit rächt.
Kooperation mit Yuliya
Die größte Herausforderung für mich ist das Gefühl, eine Zielscheibe zu sein.
Ich war 14 Jahre alt und lernte im Schein einer Tischlampe, während ich mit einem Ohr dem Fernseher lauschte. Ich erinnere mich, wie mich eine Abendnachrichtensendung erstarren ließ. In den USA ereignete sich der Terroranschlag vom 11. September. Ukrainische Fernsehsender berichteten live aus New York. Vor dem Hintergrund von Rauch, Feuer und Chaos klangen die Stimmen der Journalist:innen, die im Mittelpunkt der Tragödie arbeiteten, mutig und professionell. Ich war beeindruckt, wie Menschen, die selbst in Gefahr und genauso verängstigt waren wie alle anderen, ihre Angst und Panik beiseite schieben konnten, um den Zuschauer:innen ruhig Informationen zu vermitteln. Und das so, dass selbst eine Schülerin aus einer Kleinstadt im Osten der Ukraine nicht gleichgültig blieb. Ein Jahr später begann ich, in der einzigen Zeitung meiner Stadt auszuhelfen. Seitdem blieb ich diesem Beruf treu.

Am meisten interessierten mich schon immer Menschen – ihre Träume, ihr Schicksal, ihre Motivation, Entscheidungen zu treffen, was sie zum Lächeln oder Weinen bringt. Seit Beginn des Krieges im Jahr 2014 habe ich immer weniger Zeit für tiefgehende, gründliche Projekte. Ich arbeite als Kriegsjournalistin und schreibe hauptsächlich für westliche Medien. Meistens handelt es sich um Berichte von der Front – über die Folgen von Beschuss, Besatzung und Befreiung, Kriegsverbrechen, Geschichten von Kindern, die durch Minen verletzt wurden, und die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus dem Kriegsgebiet.
Es gibt eine Menge von Regeln, wie man an der Front arbeiten soll, dass man nicht in Hotels in Städten nahe der Front bleiben sollte, dass man ein gepanzertes Auto braucht, nicht in die Flugzone russischer Drohnen fahren darf, nicht in den besetzten Gebieten arbeiten darf und so weiter. Ja, das sind gute Regeln.
Die Stelle, an der eine russische Granate einschlug, Charkiw Foto: Yulia Surkova
Das ist jedoch unmöglich, seit russische Truppen 2014 in Donezk einmarschierten, die Polizei übernahmen und den Flughafen in einen Kriegsschauplatz verwandelten. Seitdem arbeite ich als Kriegsreporterin für westliche Medien und berichte über die Ereignisse an der Front: Beschuss, Besetzung und Befreiung, Kriegsverbrechen, Kinder, die Opfer von Landminen geworden wurden, und die Evakuierung der Zivilbevölkerung.
Kriegsjournalistin. Sie arbeitet seit über zehn Jahren als Journalistin, arbeitet mit Agence France-Presse und UNICEF zusammen und ist Mentorin für Projekte des Nationalen Journalist:innenverbands der Ukraine. Julia berichtete für ausländische Medien über den Krieg und über humanitäre Fragen und war seit Beginn der Vollinvasion als Reporterin in der Ostukraine und an der Front tätig.
Julia
Surkova