Aber das ist nicht das Schwierigste. Das Schwierigste ist zu verstehen, dass die goldenen Standards des Journalismus, die mir beigebracht wurden und an die ich mich zu halten versuche, manchmal weniger effektiv sind, als wir denken. Aus Sicherheitsgründen können wir nicht immer den genauen Ort eines Ereignisses oder die genaue Zahl der Todesopfer angeben und sind oft gezwungen, die Veröffentlichung eines Beitrags zu verschieben, denn manchmal hängen Menschenleben von unserer Arbeit ab. Es ist auch schwer, neutral zu bleiben, wenn zwischen Gut und Böse eine Kluft klafft.
Ich möchte nicht in dieser Kluft stehen; ich möchte die Wahrheit vermitteln, denn nur in der Wahrheit liegt Gerechtigkeit.
Wenn alle Journalist:innen
die Wahrheit sagen würden, dann
könnte man sie doch nicht
alle umbringen?
Seit dem 24. Februar 2022 tötete Russland 117 Medienschaffende: 18 bei der Ausübung ihrer beruflichen Pflichten und weitere 99 durch Beschuss, Folter oder im Kampf. Daten des Instituts für Masseninformation, März 2025.
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Einziger
Artikel
Kooperation mit Polina
Mit Menschen zu sprechen und ihre Geschichten zu erzählen, ist das Mindeste, was ich tun kann, um einem gerechten Frieden näher zu kommen. Ich möchte gerne daran glauben, dass meine Texte dem Publikum helfen, nicht aufzugeben, und zeigen, wie wichtig es ist, die ukrainische Armee zu unterstützen und für die Wahrheit zu kämpfen, so gut man kann: mit Waffen, Spenden, Ehrenamt, Informationskampagnen und so weiter.
Den Strom von Schrecken und Schmerz, den man hört und sieht, kann ich nicht einfach an mir vorbeiziehen lassen – Empathie ist für Reporter:innen notwendig, aber sie führt auch zum Burnout. Anfang 2023 geriet ich mit meinem Team in der Nähe von Bachmut, wo damals heftige Kämpfe tobten, unter Mörserbeschuss. Nie zuvor war ich dem Tod so nahe gewesen.
Eine der emotional schwierigsten Geschichten war wohl die eines Mädchens, das in den ersten Tagen der Vollinvasion zusammen mit ihrer Familie aus Kyjiw in die Region Tschernihiw evakuiert wurde. Auf der Autobahn wurde das Auto, in dem die Familie fuhr, von den Russen beschossen. “Ich saß auf dem Schoß meiner Mutter. Von meiner Mutter blieb nur noch das übrig.”
Ich träumte nie von einer Karriere als Kriegsreporterin – das schien mir etwas sehr Entferntes zu sein. Jetzt schreibe ich über Soldat:innen und Zivilist:innen, die ihr Zuhause verloren, traumatisiert sind, Folter erleiden mussten und vieles mehr.
Ich dachte viel darüber nach und kam auf die Idee, eine von denen zu werden, die die Wahrheit sagen, denn wenn es immer mehr von uns gibt, kann niemand unsere Stimmen übertönen.
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Kupiansk (Region Charkiw), erste Tage nach der Befreiung von der Besatzung. 2022 Foto: Polina Vernyhor
Meine Großmutter sah jeden Abend die Nachrichten im Fernsehen, und als Kind verbrachte ich oft meine Abende bei ihr. Einmal wurde in den Nachrichten ein Bericht über die Ermordung des ukrainischen Journalisten Heorhij Gongadse gezeigt. Diese Geschichte beeindruckte mich damals sehr. Ich fragte meine Großmutter, ob ich es richtig verstand, dass er ermordet worden war, weil er die Wahrheit gesagt hatte. Sie bestätigte meine Vermutung. In meinem Kopf tauchte die Frage auf:
Schon an der Universität begeisterte ich mich für journalistische Ermittlungen, insbesondere für die Korruptionsbekämpfung. Ich träumte davon, eine Ermittlung durchzuführen, die mein Land wirklich verändern würde. Jetzt verstehe ich jedoch, dass nicht die Korruption, sondern der Krieg den größten Einfluss hat. Deshalb berichte ich heute, obwohl ich nie von einer Karriere als Kriegsreporterin träumte, über nichts anderes als den Krieg.
Geboren in Saporischschja, lebt und arbeitet in Kyjiw.
Als Journalistin der Stiftung „Powernys schywym“ (Komm lebend zurück) beschäftigt sich Polina mit den Schicksalen von Menschen, die vom Krieg betroffen sind, und verbreitet Geschichten von Soldat:innen, die seit Beginn der Vollinvasion die Ukraine verteidigen. Sie arbeitete in den befreiten Gebieten, an der Front und in Ortschaften nahe der Frontlinie
Polina
Vernygor